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Marfan Hilfe (Deutschland) e.V.

Aus orthopädischer Sicht finden sich bei Patient:innen mit Marfan-Syndrom eine Reihe von Besonderheiten, von denen viele optisch auffällig und daher hinreichend bekannt sind. Beispielhaft erwähnt seien die überstreckbaren Gelenke, Fußdeformitäten, Patellaluxationen (Verrenkungen der Kniescheibe), Skoliosen (Verbiegungen der Wirbelsäule), Kielbrust und die große Armspannweite.

Andere Veränderungen sind nicht auf den ersten Blick erkennbar, können jedoch im Laufe der Zeit erheblich an Bedeutung gewinnen. Hier sind vor allem die Osteopenie (Verminderung der Knochensubstanz), Duraektasie (Erweiterung des Rückenmarkssackes) und die Protrusio acetabuli (Hüftgelenksvorwölbung) zu nennen. Die letztgenannte Veränderung findet in der Literatur seltener Beachtung, daher soll im Folgenden näher darauf eingegangen werden.

Was ist eine Protrusio acetabuli und wie entsteht sie?

Das menschliche Hüftgelenk setzt sich zusammen aus der knöchernen, annähernd halbkugelig angelegten Hüftgelenkspfanne des Beckens (Acetabulum) und dem Hüftkopf des Oberschenkelknochens (caput femoris). Bei der Protrusio acetabuli kommt es zu einer Vorwölbung der Hüftgelenkspfanne und des Hüftkopfes nach innen in das Becken (Medialisierung). Die Erstbeschreibung der Protrusio acetabuli erfolgte 1824 in Breslau. Es ist zwischen der primären Form, die eine Verknöcherungsstörung des Beckens während der Pubertät darstellt, und der als Folge anderer Erkrankungen auftretenden sekundären Form zu unterscheiden. Bei der sekundären Form ist die Ursache der Vorwölbung stets ein Missverhältnis zwischen knöcherner Belastbarkeit und tatsächlich stattfindender Belastung. Daher kann sie im Rahmen verschiedener Krankheiten, wie z.B. rheumatischen Gelenkveränderungen, Knochenstrukturerkrankungen oder nach Strahlentherapie auftreten.

1978 wurde die Protrusio acetabuli erstmals auch bei Patient:innen mit Marfan-Syndrom beschrieben, hier ist die Ursache in erster Linie in der Veränderung der Mikrofibrillen-Struktur zu suchen. Die Verminderung der Knochensubstanz selbst scheint dagegen nur von untergeordneter Bedeutung zu sein.

Wie häufig tritt eine Protrusio acetabuli beim Marfan-Syndrom auf und wer ist besonders betroffen?

Größere Studien haben gezeigt, dass bei etwa einem Drittel der Marfan-Patient:innen mit einer Protrusion zu rechnen ist. Meist sind dabei beide Hüftgelenke betroffen. Es gibt jedoch auch Untersuchungen, die von einem Auftreten der Protrusio acetabuli beim Marfan-Syndrom in bis zu 80% der Fälle berichten.

Grundsätzlich kann diese Veränderung in jedem Alter auftreten, wird jedoch überwiegend bei Patient:innen über 30 Jahren festgestellt. Tritt die Protrusion bereits im Kindesalter auf, ist mit schwerwiegenderen Verläufen zu rechnen.

Während bei der primären Form der Protrusio acetabuli das weibliche Geschlecht deutlich häufiger betroffen ist, findet sich bei den sekundären Formen, also auch im Rahmen des Marfan-Syndroms, eine annähernd ausgeglichene Geschlechtsverteilung.

Welche Beschwerden verursacht eine Protrusio acetabuli und wie wird sie diagnostiziert?

Zu Beginn der Protrusion sind die meisten Patient:innen in der Regel beschwerdefrei. Dadurch wird diese Veränderung häufig erst spät erkannt. Auch im fortgeschrittenen Stadium ist nicht immer mit Schmerzen zu rechnen. Bei einem Teil der Patient:innen jedoch kommt es infolge der Formveränderung der Hüftpfanne dort zu sekundären Abnutzungserscheinungen mit Knorpelabrieb im zentralen Bereich und Deformierungen des Hüftkopfes. Man spricht dann von einer Protrusionskoxarthrose (Vorwölbungsarthrose des Hüftgelenkes). Daher stellt die Protrusio acetabuli eine so genannte vorarthrotische Fehlform dar.

Erste Anzeichen einer sekundären Arthrose sind Anlaufschmerz im Hüft-, Oberschenkel- oder Kniebereich, Verringerung der schmerzfreien Gehstrecke und verminderte Belastbarkeit des betroffenen Beines. Hinzu kommt noch eine zunehmende Einschränkung der Beweglichkeit des Hüftgelenkes, zu Beginn für die Dreh-, Streck- und Abspreizbewegungen. In späteren Stadien kommt es zusätzlich auch zu Ruhe- und Nachtschmerz, Verlust der schmerzfreien Gehstrecke und fortschreitender Bewegungseinschränkung bis hin zu völliger Einsteifung. Obwohl sich die Protrusionskoxarthrose im Gegensatz zu anderen Arthroseformen des Hüftgelenkes vorwiegend im zentralen Bereich der Pfanne entwickelt, entspricht die Schmerzsymptomatik im Wesentlichen der von ohne Vorwölbung entstandenen Hüftgelenksarthrosen.

Erwähnt sei ebenfalls, dass es bei ausgeprägter beidseitiger Pfannenvorwölbung der Frau zu einer Einengung des kleinen Beckens und damit zu mechanischen Behinderungen kommen kann, was in der Geburtshilfe von Bedeutung ist.

Neben den typischen Beschwerden ist das wegweisende diagnostische Hilfsmittel das Röntgenbild. Hier lässt sich deutlich das Hineintreten des Pfannengrundes in das Becken erkennen. 3 Röntgen-Kriterien werden dabei zur Beurteilung herangezogen (Abb. 1-3):

  1. Veränderung oder Verlust der ''Köhler-Tränenfigur''
  2. Vergrößerung des Zentrum-Erker-Winkels (normal 20°-40°)
  3. Überschreiten der inneren Beckenlinie (iliopektineale Linie) durch die Hüftgelenkslinie (Acetabularlinie)

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Die Auswahl der einzuschlagenden Therapie hängt maßgeblich vom Stadium der Vorwölbung (Protrusion) und den eingetretenen Beschwerden ab. Bestehen keine oder kaum Schmerzen, ist eine abwartende Haltung gerechtfertigt, da nicht immer eine sekundäre Arthrose auftritt. Bei nachgewiesener Protrusion sind Röntgenkontrollen alle 2 Jahre empfehlenswert, bei zunehmenden Beschwerden auch eher. Treten Schmerzen auf, sind zunächst konservative (also nicht-operative) Maßnahmen angezeigt. Diese reichen von einer angepassten medikamentösen Schmerztherapie über physikalische Maßnahmen (Krankengymnastik, Elektro- und Hydrotherapie) und Gewichtsreduktion bis hin zu orthopädietechnischen Hilfsmitteln (z.B. Pufferabsätze, Gehhilfen). Patient:innen sollten das erkrankte Gelenk in Bewegung halten und moderat beanspruchen.

Diese Maßnahmen können zwar die Beschwerden lindern, jedoch den Verlauf der Protrusion nicht beeinflussen oder gar aufhalten. Bei fortgeschrittener Arthrose mit entsprechend ausgeprägten Schmerzen, Verlust der schmerzfreien Gehstrecke und begleitender Bewegungseinschränkung kommen operative Maßnahmen zum Einsatz.

Während im Kindesalter noch der operative Verschluss der Wachstumsfugen des Beckens (Epiphyseodese) erfolgreich sein kann, bieten in Erwachsenenalter gelenkerhaltende Maßnahmen wie z.B. die Umstellungsoperation des Oberschenkelknochens wenig Aussicht auf anhaltende Schmerzlinderung. Daher ist die Operation der Wahl bei der Protrusionskoxarthrose des Marfan-Syndroms der endoprothetische Gelenkersatz, also die Versorgung mit einem künstlichen Hüftgelenk. Dieser Eingriff wird auch vereinzelt bereits im Kindes- und jungen Erwachsenenalter durchgeführt, wenn die Wachstumsfugen bereits verschlossen sind. Technische Schwierigkeiten kann aufgrund des ausgedünnten Pfannenbodens die Verankerung der künstlichen Pfanne am Becken bereiten, deshalb sind hier regelmäßig plastisch aufbauende Maßnahmen, in der Regel mit körpereigenem Knochen, notwendig.

Für den Ersatz des Hüftgelenkes liegen mittlerweile ausgezeichnete Langzeitergebnisse vor. Die Standzeiten der Kunstgelenke sind jedoch gerade bei jüngeren Menschen, die ihr Gelenk entsprechend stärker beanspruchen, begrenzt. Daher sollte der Zeitpunkt für eine Operation nicht zu früh gewählt werden. Zudem bieten sich gerade bei jungen Menschen Spezialimplantate mit knochensparender Implantation an, die die Voraussetzungen für eine zu erwartende Wechseloperation verbessern.

/ Dr. Peter Rieger, Orthopäde am Klinikum Uckermark

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